Interview
Shaun White ist der grösste Freestyle-Sportler, den die Olympischen Spiele bisher hervorgebracht haben. Der Amerikaner erklärt, warum er es mit 35 noch einmal wissen will, nachdem schon vor Jahren alles hätte vorbei sein können.
Philipp Bärtsch
Shaun White, als Sie 2018 zum dritten Mal Olympiasieger im Halfpipe-Snowboarden wurden, dachte man: Vielleicht sehen wir ihn 2020 nochmals an Olympischen Spielen, als Skateboarder. Aber kaum an den Winterspielen 2022. Und nun bereiten Sie sich auf die Spiele im nächsten Februar in Peking vor.
Ich war ja die meiste Zeit meines Lebens auch ein professioneller Skateboarder und dachte mir, wie aufregend es wäre, bei der Olympia-Premiere dieses Sports dabei zu sein und sowohl an Winter- als auch an Sommerspielen teilgenommen zu haben. Was für eine Herausforderung! Ich stürzte mich hinein, trainierte so viel wie möglich und trat an einigen Wettkämpfen an.
Doch an die Sommerspiele in Tokio schafften Sie es nicht.
Als sich Anfang 2020 abzeichnete, dass die Spiele in Tokio um ein Jahr verschoben werden, musste ich mich entscheiden. Das Skateboard-Projekt weiterzuverfolgen, hätte bedeutet, die Winterspiele in Peking 2022 abzuschreiben. Es ist unmöglich, in nur einem halben Jahr wieder ein Halfpipe-Snowboarder auf Höchstniveau zu werden.
Und weshalb gaben Sie dem Snowboarden den Vorzug?
Ich realisierte, dass ich noch nicht fertig bin mit dem Snowboarden. Es war ein harter Entscheid, aber ich bin zufrieden damit.
Bleibt eine Olympiateilnahme als Skateboarder ein Ziel?
Mal sehen, wie ich mich nach Peking fühle. Es gibt Gerüchte, wonach auch Vert-Skateboarden olympisch werden könnte, also Halfpipe-Fahren – mein Spezialgebiet. Ich bin sehr gespannt, ob das dereinst eintrifft. Da könnte ich wohl nicht widerstehen.
California-Boy
phb.Shaun White wuchs in San Diego auf. Er galt früh als grosses Skate- und Snowboard-Talent. Er war siebenjährig, als ihn erste Sponsoren unter Vertrag nahmen, mit dreizehn wurde er Profi. Als Snowboarder gewann White 2006, 2010 und 2018 Olympiagold in der Halfpipe, als Skateboarder zweimal an den legendären X-Games. Im März nahm er erstmals seit drei Jahren wieder an einem Snowboard-Wettkampf teil. White hat Dutzende Millionen Dollar verdient.
In Tokio gehörte neben Skateboarden auch Surfen erstmals zum Programm. Was bedeutet es Ihnen, dass die Freestyle-Sportarten ein immer grösserer Teil der Olympischen Spiele geworden sind?
Ich war als Korrespondent für den Sender NBC in Tokio und fand es grossartig, dass auch diese Athletinnen und Athleten diese Bühne betreten konnten. Der Skatepark war grandios, ich probierte ihn vor dem Contest aus, um die Mittagszeit, in der grössten Affenhitze. Es war ein Riesenspass. Die Zeit wird zeigen, was der Olympiaauftritt mit dem Skateboarden macht, wie er sich auf die künftige Beachtung in den Massenmedien auswirkt, ob es zu einem Dominoeffekt kommt, der die Sportart und die Sportler wachsen lässt.
Sie sicherten sich den Olympiasieg in Pyeongchang 2018 mit dem wohl denkwürdigsten Run in der Geschichte des Halfpipe-Snowboardens. Sie riskierten etwas, das Ihnen noch nie gelungen war, bei dem Sie im September und Oktober zuvor so schwer gestürzt waren, dass alles hätte vorbei sein können. Und dann dieser Sieg-oder-Sarg-Run zu Gold. Es wäre ein perfekter Karriereschluss gewesen.
Das stimmt, klar. Aber diese Momente kann mir so oder so niemand nehmen. Ich fühle mich immer noch grossartig und bin immer noch begeistert vom Snowboarden. Jetzt erlebe ich eine Bonus-Situation. Ich spüre weniger Druck und kann es mehr geniessen.
Ist das schon die Antwort auf die Frage, ob Sie diesmal einen anderen Ansatz verfolgen als bei Ihren bisherigen Olympiakampagnen?
Yeah. Die Zeit verfliegt und überrumpelt dich. Einst war ich der Jüngste im Feld, jetzt bin ich der Älteste. Das ist wie ein Ehrenabzeichen. Ich bin stolz darauf, so lange an der Spitze eines Sports zu stehen, der sich dermassen weiterentwickelt hat. Es ist schön, was mir Newcomer und Zurückgetretene deswegen für einen Respekt entgegenbringen.
Shaun White gewinnt 2018 die dritte Olympia-Goldmedaille in der Halfpipe.
Youtube/Eurosport
Früher trainierten Sie mit Ihrem privaten Betreuerstab oft in einer privaten Pipe. Jetzt sind Sie wie schon vor einem Jahr in Saas-Fee, wo die Weltelite jeweils zum Training auf dem Gletscher zusammenkommt. Grösser könnte der Unterschied kaum sein.
Ich bin glücklich, hier zu sein, es ist toll. Ich habe so viele dicke Winterkleider dabei, nachdem es letztes Jahr in Saas-Fee ständig geschneit hat. Jetzt trainiere ich im Kapuzenpulli. Saas-Fee ist momentan der einzige Ort auf der Welt, wo wir in einer Halfpipe trainieren können. Es gibt ja generell nicht viele solche Pipes. Im November werden wir dann alle in Österreich sein.
Sie waren zwei Jahre weg von der Halfpipe-Szene. Wie aufmerksam verfolgten Sie in dieser Zeit das Geschehen?
Ein Jahr Auszeit hatte ich mir nach allen Olympischen Spielen genommen, um mich neu auszurichten. Aber abgewandt habe ich mich nie. Ich halte meine Augen und Ohren stets offen. Man vernimmt Gerüchte darüber, an was für Tricks die Gegner gerade arbeiten. Es ist wie ein Spiel und jedes Mal anders. Ich mache mir auch während eines Time-outs viele Gedanken, wie ich zurückkommen will und was die langfristige Strategie ist. Ich lege mir jedes Detail zurecht, bevor ich wieder loslege. Es ist nie darum gegangen, das Snowboarden zu vergessen, es ist schliesslich mein Leben.
Sie sind immer noch ein junger Mann, aber nicht mehr so jung wie auch schon. Wie schwierig ist es, sich als 35-Jähriger nochmals auf das Höchstniveau zurückzukämpfen?
Körperlich fühle ich mich stark. Ich brauche bloss mehr Ruhetage. Hier in Saas-Fee nehmen alle die 8-Uhr-Gondel auf den Berg. Ich tauche erst am Mittag auf. Aber ich verschwende keine Zeit. Drei Runs zum Einfahren, und schon trainiere ich meine schwierigsten Tricks. Nach zweieinhalb Stunden bin ich wieder weg. An einem Wettkampf musst du während zweier, dreier Stunden parat sein. Ich denke, es ist ein Vorteil, wenn sich der Ablauf im Training nicht gross davon unterscheidet.
Also entscheidet gar nicht Ihr Körper darüber, ob Sie es nochmals schaffen?
Für mich ist das schon immer eine mentale Geschichte gewesen. Es geht mehr darum, motiviert zu bleiben. 2014, als Iouri Podladtchikov Olympiasieger wurde und ich nur Vierter, wollte ich zu viel auf einmal sein: Athlet, Unternehmer, Musiker. Ich war eine Kerze, die an beiden Enden brannte. Ich verlor die Motivation und dachte, das sei egal, weil ich die Tricks sowieso beherrsche. Dann trat ich an, aber mein Herz war nicht da, und ich scheiterte. Danach musste ich an mir als Mensch arbeiten, an den Beziehungen zu meinen Freunden und meiner Familie. Du willst nicht der Typ sein, der zwar grossartig ist im Job, aber nur arbeitet, arbeitet, arbeitet und sonst nichts. Ich war schleichend so einer geworden.
Nach dem Sieg in Pyeongchang 2018 heulten Sie wie ein Schlosshund.
Es war ein Déjà-vu. Wie 2014 stand ich im Final als Letzter oben und hatte es in der Hand, noch zu gewinnen. In Sotschi hatte ich es nicht in mir, ich wusste, dass ich stürzen werde, es war furchtbar. Wie wenn man einen Film schaut, dessen Ende man schon kennt – und es nicht ändern kann. In Pyeongchang hingegen wusste ich, dass ich es schaffe. Der Weg zu diesem Sieg war so emotional gewesen mit den zwei schweren Stürzen, nach denen ich mich wieder hatte aufrappeln müssen. Diese Glut trage ich immer noch in mir.
Haben diese beiden Stürze Ihr Risikomanagement beeinflusst?
Nein. Dass Actionsportler verrückt sind und jederzeit einfach alles probieren, ist ein Mythos. Auf mich trifft das Gegenteil zu. Wenn etwas nicht passt, gehe ich wieder. Ich warte auf den günstigen Moment, in dem ich die Komfortzone verlassen und etwas möglicherweise Gefährliches versuchen kann. Ich denke, dass ich ziemlich gut darin bin.
Sie sagten 2018, dass Sie nach dem Frust in Sotschi 2014 erstmals in Ihrem Leben im Fitnessstudio trainiert hätten.
Heute ist es mir schon fast peinlich, darüber zu reden. Ich sah mich halt nie als traditionellen Athleten. Ich leistete mir den Luxus, nicht ins Gym zu gehen, und gewann trotzdem. Als ich doch noch damit begann, ging es mir mehr um meine Einstellung als um meine Fitness. Ich hatte nicht das Gefühl, ich müsse stärker oder ausdauernder werden. Aber wenn ich ins Gym ging, machte mich das zufriedener. Es gab mir das Gefühl, meine Arbeit gut gemacht zu haben. Manchmal tut es gut, aufzuwachen und in den Tag hinein zu leben. Aber in der Regel brauche ich eine Struktur. Das Gym gehört jetzt zu meinem Leben, früher begnügte ich mich im Sommer mit Skateboarden, Surfen, Mountainbiken.
2009 sagten Sie in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag»: «Ich bin so daran gewöhnt, immer im Mittelpunkt zu stehen, dass ich mich komisch fühle, wenn man mich in Ruhe lässt. Mir fehlt dann etwas.» Ist das immer noch so?
Damals war ich noch auf der Suche nach anderen Dingen, die mich glücklich machen. Heute sehne ich mich nicht mehr so sehr nach dem Erfolg und der Aufmerksamkeit. Das Snowboarden und das Rampenlicht sind bloss noch ein Bonus. Die Zeit, in der ich ein Spitzenathlet sein kann, ist begrenzt. Mich inspiriert jemand wie Tom Brady, der auch mit 44 noch ein grossartiger Quarterback ist. Ich möchte auch ein Paradebeispiel für eine langlebige Karriere sein. Aber sonst bin ich zufrieden, wenn ich ein guter Freund, Bruder, Partner und Onkel bin. Und ein gutes Herrchen für meinen Hund.
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